Gesundheitsdaten, Selbstvermessung und der digitale "Health Coach"
Gastbeitrag --- Wearables, Gesundheits-Apps und Selbstvermessung - digitale Tools zur Erfassung von Bewegung, Schlaf, Ernährung und psychischer Verfassung sind aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Während manche darin ein neues Körperbewusstsein und mehr Gesundheitskompetenz sehen, warnen andere vor der Entstehung eines "gläsernen Menschen". Genau an dieser Schnittstelle forscht das "Center for Social & Health Innovation" (CSHI) gemeinsam mit der Firma Moveeffect: Ziel ist die Entwicklung eines digitalen "Health Coach", der Nutzerinnen und Nutzer auf ihrem Weg zu einem gesünderen Leben begleitet - und gleichzeitig Unternehmen ein wirksames betriebliches Gesundheitsmanagement ermöglicht.
Im Zentrum des Projekts steht die Frage, wie gesundheitsfördernde Verhaltensänderungen langfristig unterstützt werden können. Dabei kommen psychologische Erkenntnisse zur Sprache - etwa der sogenannte "present bias", bei dem kurzfristige Belohnungen langfristige Gesundheitsziele überlagern. Um diesem Effekt zu begegnen, entwickelt das Team des CSHI digitale Anreizsysteme: Gamification-Elemente, Belohnungen, persönliche Zielvereinbarungen oder auch Feedbacksysteme im Vergleich zu anderen Nutzerinnen und Nutzern.
Besonderes Augenmerk gilt dabei den ethisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Was bedeutet es, wenn Gesundheitsdaten in Echtzeit erhoben, analysiert und zur Grundlage von Verhaltensempfehlungen gemacht werden? Wie kann sichergestellt werden, dass Nutzerinnen und Nutzer in ihrer Autonomie gestärkt - und nicht durch ständige Selbstoptimierung unter Druck gesetzt - werden? Mit dem digitalen Health Coach entsteht ein Werkzeug, das nicht nur individuelle Gesundheitsziele unterstützt, sondern auch für Unternehmen neue Möglichkeiten schafft: Standortunabhängig und niederschwellig wird Gesundheit zu einem Thema, das alle Lebensbereiche durchdringt - und nicht auf klassische Betriebssportangebote oder punktuelle Gesundheitsaktionen beschränkt bleibt.
Zur Beantwortung dieser Fragen wurde das Projekt bewusst partizipativ angelegt. Über qualitative Interviews werden Nutzerinnen und Nutzer in mehreren Phasen eingebunden: Ihre Erwartungen, Erfahrungen und kritischen Anmerkungen flossen laufend in die Weiterentwicklung der App ein. Auf dieser Basis entstehen sogenannte Personas - realitätsnahe Nutzerinnen- u. Nutzerprofile - die als Leitfaden für die weitere Programmierung dienen. Ergänzend werden anonymisierte Gesundheitsdaten ausgewertet, um zu analysieren, welche Anreizsysteme in welchen Bereichen besonders wirksam sind.
Der digitale Health Coach ist ein Beispiel dafür, wie technologiegestützte Gesundheitsförderung mit sozialwissenschaftlicher Reflexion verbunden werden kann. Statt blindem Fortschrittsglauben oder technikkritischem Rückzug verfolgt das Projekt einen dritten Weg: Es will die Potenziale der Digitalisierung für mehr Gesundheitsbewusstsein und betriebliche Prävention nutzen - ohne die Risiken von Überforderung und Leistungsdruck aus dem Blick zu verlieren.
So darf bei aller berechtigten Sensibilität im Umgang mit Gesundheitsdaten nicht übersehen werden, dass solche digitalen Anwendungen auch starke Selbstermächtigungspotenziale bergen. Wer Zugang zu wissenschaftlich begleiteten bzw. fundierten, verständlich aufbereiteten, personalisierten Gesundheitsinformationen hat, kann aktiv Entscheidungen für die eigene Gesundheitsvorsorge treffen - sei es durch Zielformulierungen wie mehr Bewegung, weniger Zucker, Rauchen, Alkohol, mehr Aufmerksamkeit für seine mentale Gesundheit oder in weiterer Folge durch strukturierte Erinnerungen an Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. Wenn solche Systeme zukünftig mit bestehenden Angeboten - wie etwa der Online-Terminvereinbarung im niedergelassenen Bereich - gekoppelt werden, entsteht ein echter Mehrwert: Gesundheitsdaten werden zum Werkzeug der Eigenverantwortung. Genau daran arbeitet das CSHI derzeit in einem weiteren Projekt, dessen erste Ergebnisse in Kürze vorliegen werden.
Zur Person:
Prof. Dr. Lukas Kerschbaumer leitet seit September 2022 den Bachelorstudiengang Sozial-, Gesundheits- & Public Management und ist Teil des Center for Social & Health Innovation am MCI - Die Unternehmerische Hochschule® in Innsbruck. In Forschung und Lehre beschäftigt er sich mit sozialen Kontexten und Determinanten von Gesundheit, Gesundheitskompetenz, Armuts- und Arbeitsmarktfragen, Migration und Fachkräftemangel sowie qualitativen Methoden.
Service: Dieser Gastbeitrag ist Teil der Rubrik "Nachgefragt" auf APA-Science. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.