Vom Schrittzähler zum digitalen Zwilling: Neue Sinne, neue Möglichkeiten, neue Sorgen
Gastbeitrag --- Die Sensorik hat eine beeindruckende Entwicklung hinter sich: von kastengroßen, mehrere zehntausend Dollar teuren Bewegungssensoren für Interkontinentalraketen zu reiskorngroßen Hochleistungssensoren für ein paar Cent. Heute tragen wir quasi Messstationen mit uns durchs Leben - und die messen fleißig mit. Smartphones, Wearables und Co. hinterlassen einen permanenten multisensorischen Fußabdruck unseres Lebens. Das Potenzial für die Gesundheitsvorsorge ist enorm, doch wir nutzen es bisher kaum.
"All data is health data" - diese Überlegung treibt uns auch im FFG-Leitprojekt Prehab2Rehab an. Sensorik und Apps können uns motivieren (beispielsweise sanfte Stupser zu mehr Bewegung), analysieren (als quasi sechster, siebenter oder achter Sinn liefern sie objektive Informationen über unseren Körper, die uns sonst verborgen blieben) und begleiten - besonders dann, wenn keine Gesundheitsexpertin und kein Gesundheitsexperte verfügbar ist, was in ambulanten Settings die meiste Zeit der Fall ist.
Von Patientinnen und Patienten selbst generierte Daten könnten den dringend nötigen Paradigmenwechsel im Gesundheitssystem unterstützen: weg vom "Reparieren, wenn es kaputt ist" hin zur dauerhaften Vorsorge. Machen wir mit unseren Autos ja auch - warum nicht mit unserem Körper? Die Daten können aufzeigen, dass sich Prävention lohnt, indem sie den Nutzen von investierter Zeit und Energie sichtbar machen.
Im Projekt Prehab2Rehab untersuchen wir, wie Menschen entlang des gesamten Versorgungspfads - vor und nach geplanten Operationen - optimal unterstützt werden können. Der Weg beginnt meist in der Hausordination oder Spezialambulanz. Fällt die Entscheidung für eine Operation, folgt idealerweise eine Prehabilitation zur Verbesserung der körperlichen Fitness. Nach dem Eingriff unterstützt die Rehabilitation bei der Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit. Wir betrachten dabei explizit einen "digitalen und auch Daten-Versorgungspfad" und versuchen, Lücken in Unterstützungsangeboten zu schließen.
Digitale Gesundheitsanwendungen des LBI-DHP wie die HERO App zur pfadbegleitenden Unterstützung nach akuten Herzereignissen, oder die aktivplan App für personalisierte Bewegungspläne, dienen als Basistechnologien. Langfristige lebensbegleitende Unterstützung muss jedoch hochgradig automatisiert und kosteneffizient funktionieren. Die MORE-Plattform liefert dafür wichtige Forschungsgrundlagen als Anwendung zur Datenerhebung im Alltag.
Dann kommen KI-basierte Ansätze ins Spiel: Sie können bisherige Probleme bei Skalierbarkeit, Umgang mit unvollständigen Daten und der komplexen Interpretation im Kontext individueller Fähigkeiten und Bedürfnisse beispielsweise für personalisierte Gesundheitsanwendungen neu angehen. Natürlich gibt es berechtigte Bedenken bezüglich Datenschutz, Zuverlässigkeit und Nachvollziehbarkeit. Doch die Realität ist: Derartige Systeme werden bereits täglich tausendfach auf Eigeninitiative - quasi off-label - für Gesundheitszwecke eingesetzt. Regulatorische Ansätze müssen so gestaltet werden, dass sie sich nicht selbst obsolet zu machen, indem sie komplett umgangen werden.
Was wir beobachten, ist eine Verstärkung jener Herausforderungen, die schon die Verfügbarkeit medizinischer Informationen im Internet mit sich brachte: Das traditionelle Verhältnis zwischen Gesundheitsexpertinnen und -experten und Patientinnen und Patienten wandelt sich. Die Auflösung alter "Götter in Weiß"-Rollen kann positiv sein, birgt aber auch Risiken durch Überinterpretationen und Missverständnisse. Mit KI-generierten Informationen aus Chatbots droht eine Verstärkung dieser Probleme. Es gilt, den Wandel zu einem Dreiecksverhältnis zwischen Fachpersonal, Patientinnen und Patienten sowie Computer- und insbesondere KI-Systemen aufmerksam zu begleiten. Sonst droht eine unbedachte Übertragung von Verantwortung an automatisierte Systeme.
Zudem könnte übermäßige Selbstvermessung zu Problemen mit authentischer Selbstwahrnehmung führen. Bei dazu neigenden Personen droht eine Art digitale Hypochondrie. Wenn zur Einbildung möglicher Gesundheitsprobleme noch die ständige Angst vor möglichen zukünftigen Erkrankungen oder "Degeneration" kommt, könnte man von "Hyperchondern" sprechen - Menschen, die nicht nur unter eingebildeten, sondern auch unter erwarteten Belastungen leiden.
Die Vorteile sollten wir trotzdem nicht vergessen. Erweiterte Realitätstechnologien und digitale Gesundheitszwillinge könnten neue Dimensionen der personalisierten Medizin eröffnen. Erfolge im Verhaltenswandel, z.B. in der Umkehr von Typ 2 Diabetes zeigen, dass Menschen durchaus von Selbstvermessung profitieren können. Der European Health Data Space verspricht bessere Datennutzung - auch wenn bei uns noch immer CDs verschickt werden nach dem Motto "ELGA klingt kompliziert und unbeliebt".
Die Zukunft liegt wohl in der klugen Balance: Wir sollten die Potenziale digitaler Gesundheitstechnologien nutzen, ohne uns von ihnen beherrschen zu lassen. Denn am Ende geht es nicht um Daten, sondern um Menschen - möglicherweise vermessener, aber hoffentlich nicht zu vermessen.
Zur Person:
Dr.-Ing. Jan Smeddinck ist Co-Direktor am Ludwig Boltzmann Institut für digitale Gesundheit und Prävention (LBI-DHP; https://dhp.lbg.ac.at) in Salzburg und Forschungsgruppenleiter für die Entwicklung digitaler Gesundheitsinterventionen zur Förderung von langanhaltendem Verhaltenswandel und für Datenanalyse zur Personalisierung und Vorhersage. Zuvor war er als Postdoc am International Computer Science Institute in Berkeley und leitete dann den Digital Health Cluster am Open Lab der Newcastle University. Nun ist er verantwortlich für die Umsetzung digitaler Gesundheitsanwendungen wie z. B. aktivplan, sowie für die Modulare offene Forschungsplattform (MORE; https://more-platform.at) am LBI-DHP. Er koordiniert zudem das FFG Leitprojekt Prehab2Rehab (https://prehab2rehab.at/), welches untersucht, wie Menschen entlang des Versorgungspfads vor und nach einer geplanten Operation bestmöglich und integriert digital begleitet und unterstützt werden können. Ziel ist eine individuell ausgerichtete Versorgung, die Patientinnen, Patienten und das Gesundheitssystem nachhaltig stärkt.
Service: Dieser Gastbeitrag ist Teil der Rubrik "Nachgefragt" auf APA-Science. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.