ME/CFS - Experten-Kritik an PVA-Gutachten - Sehen "valide Biomarker"
Post-Covid- und ME/CFS-Patienten sind laut Recherche von APA, ORF und der Rechercheplattform Dossier insbesondere bei Ansuchen um Berufsunfähigkeitspension bei der PVA mit Abweisungen konfrontiert. Dass die Erkrankungen wegen fehlender Biomarker nicht objektivierbar wären, weisen Experten zurück. Es gebe zwar nicht den "einen" Laborwert, aber "valide Biomarker" und Diagnosetools. Kritik übten sie im Interview auch am Abschieben auf die Psyche und an Simulationsvorwürfen.
Eine Folge des Absprechens der Krankheiten und des Stellens anderer Diagnosen ist laut der gemeinschaftlichen Recherche, bei der 124 Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt ausgewertet wurden, etwa die Verweigerung von Leistungen der PVA wie Berufsunfähigkeits-/Invaliditätspension bzw. (das stattdessen befristete) Rehageld. Ähnliche Hürden gibt es beim Pflegegeld. Dass insbesondere das Kardinalmerkmal von ME/CFS, die postexertionelle Malaise (PEM), in den Gutachten kaum Beachtung fand, wird von Fachleuten wie dem Tiroler Internisten und Spezialisten für postakute Infektionssyndrome (PAIS), Christoph Bammer, kritisiert.
Nach einem "sowohl kognitiv als mitunter auch körperlich anstrengenden Begutachtungsgespräch" sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich bei Betroffenen die schwere Belastungs-Erholungsstörung PEM einstellt - das aber mitunter erst deutlich zeitverzögert (24 bis 72 Stunden nach körperlicher oder kognitiver Belastung), so Bammer. Bei nur einem einzigen Begutachtungstermin sei PEM daher nicht ohne weiteres feststellbar. Wenn es dann zu einer Symptomverschlechterung kommt, "ist der Gutachter oder die Gutachterin schon wieder weit weg und sieht und hört rein gar nichts". Wollte man also ein Gutachten fachlich korrekt durchführen, müsste man den Betroffenen oder die Betroffene daher "nach 24, 48 oder 72 Stunden noch einmal sehen".
Der Linzer klinische Psychologe und Sachverständige für Berufskunde Markus Gole verwies auch auf den Effekt, dass ME/CFS- oder Post-Covid-Patientinnen und -Patienten sich vor Terminen bei der PVA oft schonen ("Pacing"), um an dem Tag nicht überlastet zu werden. "Dann wirken sie eigentlich relativ fit, wirken relativ unbeeinträchtigt - und am nächsten Tag fragt niemand mehr nach."
Ohne PEM-Berücksichtigung keine Diagnose möglich
Wird PEM als "zentrales Symptom einer ME/CFS" nicht berücksichtigt, "dann kann ich die Diagnose nicht stellen", sagte dazu der Salzburger Psychiater und gutachterliche Sachverständige Moritz Mühlbacher. Auch für Bammer ist das "nicht lege artis". Mühlbacher warnt davor, PEM zu negieren: Liegt bei den Gutachtern kein Wissen über Art und Weise von PEM vor, "dann bleibt das völlig unberücksichtigt und hat auch potenziell ziemlich starke Konsequenzen". Denn aus Gutachten würden sich oft Behandlungsrichtlinien oder Empfehlungen ableiten, warf der Spezialist einen Blick auf oftmalige Empfehlungen zu aktivierender Rehabilitation. Übermäßige Belastung aber verschlechtere dann "die Symptome und unter Umständen sogar die Prognose der Erkrankung wesentlich".
Auch Gole betonte, es sei wesentlich, ob PEM oder eine - durch Gutachter oftmals attestierte - Anpassungsstörung vorliegt. "Die Behandlungsoptionen sind vollkommen andere. Die Prognose ist vollkommen anders. Deswegen hat das eine riesige Relevanz, was eine Diagnose betrifft." Und eine solche Diagnose habe einen "Rattenschwanz an Konsequenzen": Die von der PVA als arbeitsfähig eingestuften Patienten und Patientinnen würden dann beim Arbeitsmarktservice landen und dort würde dann aber klar, dass diese nicht arbeitsfähig sind.
Man müsse klar zwischen PEM und normaler Erschöpfung differenzieren, betonte Bammer, der auch Mitautor des vor einem Jahr veröffentlichten D-A-CH-Konsensus-Statements zu ME/CFS ist. Die beiden Begriffe hätten "eigentlich überhaupt nichts miteinander gemein". PEM beschreibt laut Bammer das Phänomen, dass sich nach einer Belastung (körperlicher, kognitiver oder emotionaler Natur) vorbestehende Symptome wie beispielsweise extreme Erschöpfung, Schmerzen, Atemnot oder neurokognitive Beschwerden entweder verschlechtern "oder nach so einer Belastung neu auftreten können". Diese Belastung kann dann zu einer anhaltenden Zustandsverschlechterung führen, "was beispielsweise in einer Bettlägerigkeit münden kann".
Bei Betroffenen keine normale Erholung möglich
Eine normale Erholungsphase bringe den Betroffenen keine Besserung: "Diese Bettlägerigkeit ist nicht durch eine umgangssprachliche Mütze voll Schlaf wieder erledigt, sondern kann Tage, Wochen, Monate bis schlimmstenfalls Jahre gehen. Das heißt, wenn ich einen Menschen mit ME/CFS belaste, riskiere ich damit eine mitunter anhaltende Zustandsverschlechterung, die diesen Menschen immobilisieren und funktionell schwerst behindern kann."
Einer Dekonditionierung oder einem Trainingsmangel entspricht dieser Zustand keinesfalls: "Leute, die schlecht trainiert sind, bringen schlechte Leistung, ruhen sich danach aus und bringen danach wieder die exakt selbe oder vielleicht geringfügig bessere Leistung." Menschen mit ME/CFS hingegen würden nach Belastung (meist zeitversetzt) "überhaupt keine oder nur einen Bruchteil der Leistungen bringen, die sie vielleicht vorher erbracht haben können".
PEM-Beweis: Nicht zu "faken"
Deshalb könne man PEM auch beweisen, betonte Bammer - indem man bei Betroffenen zwei Mal eine Spiroergometrie durchführt, und zwar im Abstand von 24 Stunden. Dann sehe man, wie sich das Leistungsprofil und vor allem die Sauerstoffaufnahme verschlechtert - "und zwar in einer Art und Weise, die kein Mensch auf der Welt faken kann. Das ist somit beweisbar, und stellt deshalb einen konkreten Biomarker dar."
Gleichzeitig betonte der Internist, dass man bei der Spiroergometrie mit äußerstem Bedacht vorgehen müsse - wegen der Gefahr der Zustandsverschlechterung. Alternativ gibt es auch eine "kleine" Leistungsdiagnostik, "bei der man nur einen Bruchteil der Sollleistung auf einem Fahrradergometer absolviert". Aber selbst solche Tests sind nicht bei allen Betroffenen möglich. Dann gibt es noch sogenannte "Sit-to-Stand-Tests": Dabei steht der Proband innerhalb einer Minute einige Male vom Sessel auf und setzt sich wieder hin. Dabei kann man zuvor und danach Laktat im Blut messen, das würde eine realistische Beurteilung des Leistungsprofils sowie der gestörten zellulären Energiegewinnung erlauben. Auch das seien "valide Biomarker".
Bammer verwies auch auf weitere Tests, etwa die Messung der Handkraft im Abstand von einer Stunde, mit der die muskuläre Erschöpfung der Handmuskulatur und die "Recovery" messbar sei - ebenfalls ein "Biomarker". Die Diagnose sei "gar nicht unmöglich, es ist nur mühsam und komplex und man braucht viel Zeit. Und wenn Gutachter und Gutachterinnen etwas in der Regel nicht so gerne haben, dann sind es langwierige Untersuchungen und Patienten und Patientinnen, die zeitaufwendig sind."
Mitochondrien betroffen
Problematisch bei der Diagnose sei auch, dass ME/CFS eine "extrem komplexe Krankheit ist, die in sich sehr heterogen ist", verwies Internist Bammer auf das breite Symptomspektrum. Allerdings habe die Krankheit "im Großen und Ganzen einen gemeinsamen Pathomechanismus": "Man müsste in die Köpfe mal reinbekommen, dass es sich bei diesen Erkrankungen um Formen einer erworbenen mitochondrialen Myopathie handelt", nahm Bammer etwa Bezug auf Studien aus Deutschland und den Niederlanden, die krankheitstypische Veränderungen in Muskelbiopsien nachweisen konnten.
Auch Mühlbacher konstatierte, dass zwar nicht ein "einzelner" Biomarker existiere, es bestünden jedoch Hinweise auf biologische Veränderungen: "Es gibt laufend neue Forschungsergebnisse, die zeigen, dass das Immunsystem verändert ist, die mitochondriale Funktion verändert ist." Auch verwies er auf einen jüngst publizierten Artikel, in dem gezeigt worden sei, dass "durchaus auch Hirnschäden entstehen". Es würden sich immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse ergeben, "die zeigen, dass bei ME/CFS eindeutig eine systemische, eine körperliche Erkrankung vorliegt". Erhebe man aber nur einen normalen neurologischen Status, so werde man nichts finden: "Und das ist eine falsche Schlussfolgerung, weil sie nicht nach den richtigen Symptomen gesucht haben."
Rein klinische Diagnose auch bei anderen Erkrankungen anerkannt
Und selbst wenn man keinen der genannten "Biomarker" anwendet, sei ME/CFS anhand der Klinik diagnostizierbar. Mühlbacher verwies darauf, dass es viele andere Erkrankungen gebe, bei denen kein klassischer Biomarker vorhanden ist - und diese würden auch "rein klinisch gestellt".
Neben psychiatrischen Krankheiten nannte er etwa Migräne oder Cluster-Kopfschmerzen, hier habe "aber auch kein Mensch einen Zweifel", dass diese Krankheiten bestehen. Auch verwies er auf die Medizingeschichte: Epilepsie etwa habe lange als psychiatrische Diagnose gegolten - "so lange, bis man dann durch verbesserte Forschung draufgekommen ist: 'Nein, es ist eine körperliche Erkrankung'. Und man kann sie jetzt sehr gut diagnostizieren mit Hilfe von entsprechenden Mitteln".
Vor Psycho-Diagnose muss ME/CFS ausgeschlossen werden
Zum Recherche-Ergebnis, dass in 40 Prozent der Gutachten die Ursprungsdiagnose ME/CFS oder Post Covid seitens der PVA-Gutachter in eine psychische oder psychosomatische Diagnose abgeändert wurde, sagte Psychiater Mühlbacher, Gutachter oder Gutachterinnen könnten natürlich zu anderen Ergebnissen kommen als die behandelnden Ärzte und Ärztinnen. "Dazu muss ich aber die bisherigen Diagnosen entsprechend würdigen und schlüssig entkräften", so der Spezialist, der selbst auch Gutachten für einen Sozialversicherungsträger erstellt.
Dafür brauche es aber Zeit: "Psychiatrische Diagnosen werden nicht innerhalb von ein paar Minuten gestellt" - und auch nicht ohne den entsprechenden Verlauf der Erkrankung zu verfolgen wie der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin.
Vor dem Stellen einer psychischen Diagnose müssten körperliche Erkrankungen ausgeschlossen werden, betonten die Spezialisten. Das gelte auch für in den Gutachten oftmals attestierte "Somatisierungsstörung" - ein psychosomatisches Krankheitsbild mit multiplen körperlichen Beschwerden. Darauf verweist etwa auch der Psychologe Gole: "Man kann keine Somatisierungsstörung diagnostizieren, wenn nicht zuvor lege artis ME/CFS ausgeschlossen wurde". Denn auch ME/CFS falle klar unter "körperliche Erkrankungen", so der Spezialist für ME/CFS und Post Covid.
Das unterstrich auch der Leiter des psychosozialen Dienstes Wien, Georg Psota: ME/CFS und Post- oder Long-Covid seien als Krankheiten mit körperlichen Ursachen ganz klar von psychischen Erkrankungen unterscheidbar, betonte er. Und PEM werde missverstanden, erklärte Gole: "Es wird PEM mit der Erschöpfung gleichgesetzt, Erschöpfung mit Depression oder Somatisierung. Das ist das übliche Vorgehen." Es stimme zwar oftmals, dass Erschöpfung für eine Depression oder Somatisierung spricht, aber eben nicht bei Patientinnen mit ME/CFS.
"Überbleibsel" aus der "Freud'schen Ära"
Dass seitens der Gutachter und Gutachterinnen der PVA teils veraltete Diagnosen gestellt werden, wie etwa Neurasthenie, bezeichnete Gole als "ein Überbleibsel der Freud'schen Ära": "In der neuen Version der ICD-11 (WHO-Klassifikation, Anm.) ist die Neurasthenie rausgekickt worden, weil sie so unscharf und unklar ist". Daher empfehle er niemandem, Neurasthenie zu diagnostizieren, "das ist im Prinzip so etwas wie ein letztes Überbleibsel an Kategorisierungsmöglichkeit, wenn ich nicht genau weiß, was los ist".
Kritisch sehen die Experten auch, dass in rund 34 Prozent der Gutachten den Antragsstellern eine "Aggravation" (Übertreibung) oder "Verdeutlichung" der Symptome oder gar Simulation attestiert wurde. Mühlbacher sagte dazu, Gutachterinnen und Gutachter seien "sehr gut darauf geschult", Aggravation zu erkennen - "und das kann natürlich auch sehr betriebsblind machen". Tatsache sei aber: "Es gibt keinen geeigneten Test, um eine entsprechende Antwortverzerrung tatsächlich nachzuweisen. Und es bleibt damit eigentlich immer die subjektive Meinung des Gutachters oder der Gutachterin und damit eine Unterstellung gegenüber den Betroffenen." Und: Der Vorwurf der Aggravation dürfte nicht einfach gestellt werden, er müsse schlüssig argumentiert werden.
Gole betonte dazu, die etablierten Tests würden grundsätzlich schon Sinn machen, aber man müsse sie auch richtig interpretieren können. Denn gerade ME/CFS-Betroffene hätten sehr viele Symptome und in bestimmten Testverfahren dadurch sehr hohe Werte bei den sogenannten "Pseudosymptomen", woraus Gutachter dann falsche Schlüsse ziehen würden.
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