Europäische Allianz für Proximitäts-induzierende Wirkstoffe
Wissenschaftler:innen aus sechs führenden europäischen Forschungseinrichtungen befürworten die Gründung einer Europäischen Allianz zur beschleunigten Entwicklung von Proximitäts-induzierenden Wirkstoffmodalitäten. Dies haben die Goethe-Universität Frankfurt, das IRB Barcelona, CeMM und AITHYRA in Wien, die Universität von Dundee sowie der EPFL Lausanne soeben in einem Perspektivenbeitrag in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Molecular Cell (DOI: 10.1016/j.molcel.2025.07.018) bekannt gegeben. Die innovativen therapeutischen Ansätze beruhen auf dem Prinzip, Moleküle gezielt in unmittelbare räumliche Nähe zu bringen, um krankheitsrelevante Proteine zu beeinflussen - darunter viele, die bislang als nicht angreifbar galten.
Proximitäts-induzierende Wirkstoffe wie PROTACs (proteolysis targeting chimeras) oder molekulare Kleber programmieren die zelluläre Maschinerie so um, dass krankheitsverursachende Proteine verändert oder eliminiert werden. Ausgehend von der Idee, das zelleigene Entsorgungssystem gezielt zum Abbau von Proteinen zu nutzen, haben diese Ansätze die Art und Weise, wie Wissenschaftler Krankheitsmechanismen angehen, nachhaltig verändert: Anders als herkömmliche Hemmstoffe können diese innovativen Wirkstoffe nämlich schädliche Proteine komplett entfernen. Und mehr noch: Inzwischen wird auch an der Umprogrammierung anderer zellulärer Signalwege geforscht.
In Österreich treibt Georg Winter die Entwicklung dieser revolutionären Wirkstoffklasse am CeMM und bei AITHYRA voran. Sein Labor hat mehrere Methoden für den gezielten Proteinabbau entwickelt und setzt sie ein, um onkogene Genregulationsnetzwerke zu verstehen und zu durchbrechen. Das Winter-Labor legt dabei einen starken Fokus auf die Entdeckung grundlegender Prinzipien des zielgerichteten Proteinabbaus, indem es Hochdurchsatzbiologie und biochemische Rekonstitutionen mit Datenwissenschaft und Künstlicher Intelligenz verbindet. Zukünftig wird sich das Labor zudem verstärkt darauf konzentrieren, Transkriptionsfaktoren direkt umzuprogrammieren. Transkriptionsfaktoren regulieren die Genaktivität und sind mit herkömmlichen Medikamenten typischerweise nicht zugänglich. Deshalb werden sie bislang nur selten als therapeutische Zielstrukturen in Betracht gezogen. Winters Arbeiten zu neuartigen pharmakologischen Strategien wurden durch ein ERC Starting Grant sowie einen laufenden ERC Consolidator Grant gefördert und mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet.
"Proximitätsinduzierende kleine Moleküle werden es uns ermöglichen, ein breites Spektrum zellulärer Netzwerke, die in verschiedenen Krankheiten fehlreguliert sind, therapeutisch umzuprogrammieren", erklärt Georg Winter. "Unter anderem birgt diese Strategie ein enormes Potenzial, das genetische Programm von Krebszellen umzuschreiben und eröffnet neue Wege zur Entwicklung gezielter Therapien im Kampf gegen Krebs."
Möglichkeit zur Behandlung nicht therapierbarer Krankheiten
Der nun veröffentlichte Perspektiven-Artikel skizziert die wissenschaftlichen Durchbrüche der letzten Jahre - vom Weg der PROTACs aus dem Labor in die Klinik über das gezielte Design von molekularen Klebern bis hin zu neuen Strategien, um die zellulären Abbauprozesse therapeutisch zu nutzen. Außerdem wird aufgezeigt, wie KI und maschinelles Lernen die Forschung auf diesem Gebiet beschleunigen und nachhaltig verändern könnten.
Proximitäts-induzierende Wirkstoffe eröffnen neue Möglichkeiten für biologische Ziele, die für herkömmliche Inhibitoren nicht zugänglich sind, und versprechen Fortschritte bei bislang nicht-therapierbaren Krankheiten.
Die Autorinnen und Autoren betonen die grundlegende Bedeutung der akademischen Forschung für den Fortschritt in diesem Bereich und rufen zu einer intensiveren Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie auf, um das volle therapeutische Potenzial auszuschöpfen. Die beteiligten Forschungszentren in Wien, Dundee, Barcelona, Frankfurt und Lausanne vereinen komplementäre Expertise in medizinischer Chemie, Strukturbiologie, Biophysik, Zellbiologie und computergestützten Methoden. Bestehende Kooperationen seien bisher oft zu begrenzt in Umfang und Dauer.
Einwerbung öffentlicher und privater Fördermittel nötig
Die geplante Europäische Allianz soll Know-how, Infrastruktur und digitale Plattformen bündeln. Sie würde den Zugang zu Technologien erleichtern, neue Standards zur Bewertung setzen, die Verzahnung experimenteller und rechnergestützter Wirkstoffentdeckung verbessern sowie lebensnahe Modelle entwickeln, um Herausforderungen bei Wirkstofftransport und Sicherheit zu adressieren. Angestrebt wird die Einwerbung öffentlicher und privater Fördermittel, um die bestehenden europäischen Zentren mit internationalen Partnern zu vernetzen, unter anderem Pharma-, Biotech-und Technologiefirmen.
"Europa hat eine einzigartige Chance, die Kreativität der akademischen Forschung, die Präzision innovativer Methoden und die Erfahrung der Industrie zu vereinen", sagt Georg Winter. "Indem wir unsere Kräfte in einer gezielten Allianz bündeln, können wir die Strukturen schaffen, die notwendig sind, um vielversprechende wissenschaftliche Ideen rascher in konkrete therapeutische Fortschritte zu verwandeln."
Kernaussagen:
- Bahnbrechende Therapeutika: Proximitäts-induzierende Wirkstoffe wie PROTACs und molekulare Kleber können krankheitsverursachende Proteine vollständig entfernen und eröffnen so neue Behandlungsoptionen für bisher nicht angreifbare Ziele.
- Ein europäisches Innovationskraftwerk am Start: Führende akademische Standorte in Frankfurt, Barcelona, Dundee, Lausanne und Wien bringen Spitzenexpertise ein und streben eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen akademischen Institutionen und mit Industriepartnern an, um ungenutzte Potenziale besser auszuschöpfen.
- Appell zur Zusammenarbeit: Die Autorinnen und Autoren fordern den Aufbau einer globalen Allianz zwischen Wissenschaft und Industrie, um Ressourcen zu teilen, die frühe Wirkstoffentwicklung zu beschleunigen und die nächste Forschergeneration auszubilden, sodass Durchbrüche aus der Grundlagenforschung schneller zur Anwendung gelangen.
Der Artikel "Opportunities in proximity modulation: bridging academia and industry" erschien in der Zeitschrift Molecular Cell am 21 August 2025. . DOI: 10.1016/j.molcel.2025.07.018
Autor:Innen: Ivan Dikic, Cristina Mayor-Ruiz, Georg E. Winter, Kerstin Koch, Alessio Ciulli, and Nicolas H Thomä.
Georg Winter, PhD, promovierte am CeMM im Labor von Giulio Superti-Furga mit Arbeiten zur Wirkweise onkologischer Medikamente. Für seine Postdoc-Phase wechselte er an das Dana-Farber Cancer Institute/Harvard Medical School in das Labor von James Bradner, wo er die erste Studie zur in vivo-Protein-Destruktion mittels Degrader veröffentlichte (Science 2015). Im Juni 2016 wurde er als Principal Investigator ans CeMM berufen. Seit 2025 ist Georg Winter Life Science Director des neu gegründeten Forschungsinstituts für biomedizinische KI AITHYRA. Inhaltlich bewegt sich seine Forschung an der Schnittstelle von chemischer Biologie, Krebsforschung und Genregulation. Seine Arbeit trug zur Gründung von C4 Therapeutics bei, zudem ist er Mitgründer der Biotech-Unternehmen Proxygen und Solgate Therapeutics. Die Forschungsgruppe wird durch nationale und internationale Förderprogramme unterstützt, darunter zwei ERC Grants (Starting und Consolidator), ein Aspire Award der Mark Foundation sowie ein Cancer Grand Challenge Grant. Für seine Beiträge zur zielgerichteten Protein-Destruktion wurde Georg Winter vielfach ausgezeichnet - unter anderem mit dem Tetrahedron Young Investigator Award, dem Wilson S. Stone Memorial Award (MD Anderson), dem Eppendorf Award for Young European Investigators sowie dem Elisabeth Lutz Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter wissenschaftlicher Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise, um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen, sowie seltene Erkrankungen und Altern. Das Forschungsgebäude des Institutes befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien.
Das AITHYRA Research Institute for Biomedical Artificial Intelligence wurde im September 2024 gegründet. Es vereint die Kräfte aus Wissenschaft, Industrie und Start-up-Kultur und bringt Expert:innen aus den Bereichen Künstliche Intelligenz und Lebenswissenschaften zusammen. Im Endausbau soll AITHYRA 10 bis 14 Forschungsgruppen auf Junior- und Senior-Level sowie zahlreiche internationale Kooperationspartner umfassen. Geplant sind außerdem eine umfassende computergestützte und experimentelle Infrastruktur sowie ein hochmodernes, KI-gesteuertes Robotiklabor. Mit einer großzügigen Förderung der Boehringer Ingelheim Stiftung wird AITHYRA von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien beherbergt.
Anna Wolfschwenger Head of PR & Communications Phone +43-1/40160-70074 aschwendinger@cemm.at CeMM Research Center for Molecular Medicine of the Austrian Academy of Sciences Lazarettgasse 14, AKH BT 25.3 1090 Vienna, Austria www.cemm.at