Die stille Seite der Schizophrenie
Wahnvorstellungen und Halluzinationen gelten als typische Symptome der Schizophrenie. Doch besonders belastend sind die sogenannten Negativsymptome – Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug oder verarmte Kommunikation. Anlässlich des „World Mental Health Day“ am 10. Oktober 2025 stellt eine Wiener Forschungsgruppe ein Pilotprojekt vor, das mit alten Vorstellungen bricht.
Etwa ein Prozent der Menschen erlebt im Laufe des Lebens eine Episode aus dem Erkrankungsbereich der Schizophrenie. Für Betroffene bedeutet das nicht nur Leidensdruck und Stigmatisierung – sie haben auch ein um 15 bis 20 Jahre kürzeres Leben, eine höhere Suizidrate und mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen, da sie oft schlechter medizinisch betreut werden.
„In den letzten Jahren sind die Akzeptanz und das Verständnis für viele psychiatrische Erkrankungen gestiegen. Bei der Schizophrenie war das leider nicht der Fall, obwohl die Datenlage über neurochemische Veränderungen wesentlich deutlicher ist als zum Beispiel bei depressiven Erkrankungen“, sagt Matthäus Willeit, Leiter einer Forschungsgruppe an der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien. In einem neuartigen Ansatz untersucht Willeit, ob das Medikament Ketamin gegen bestimmte Symptome der Schizophrenie hilft.
Schizophrenie jenseits der Klischees
Willeit erforscht sogenannte Negativsymptome, die Emotionen und zwischenmenschliche Interaktion erschweren. „Woran man bei einer Schizophrenie üblicherweise denkt, sind Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder eine gestörte Sinneswahrnehmung“, sagt Willeit. Diese sogenannten Positivsymptome sind in der Regel gut behandelbar. „Was viele Menschen nicht bedenken, sind die Negativsymptome. Diese bleiben häufig bestehen, nachdem die akuten psychotischen Symptome abgeflaut sind.“
Die Betroffenen ziehen sich zurück, sprechen weniger und verlieren Tiefe in ihrem emotionalen Erleben und im mimischen Ausdruck. „Die Kommunikation trocknet in gewissem Sinne aus“, schildert Willeit. Studien zeigen, dass Menschen mit Schizophrenie und ihre Angehörigen diese Symptome oft als noch belastender empfinden als die akuten Psychosen.
In einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt untersucht Willeit den Effekt von Ketamin auf diese Symptomgruppe. Ketamin wird vor allem als Schmerzmittel und in der Anästhesie eingesetzt. Lange stand es unter dem Verdacht, Psychosen auslösen zu können, weshalb es für psychiatrische Behandlungen nicht infrage kam. Dabei seien die damaligen Berichte auf eine ungenaue Beschreibung der Psychopathologie zurückzuführen, meint Willeit.
Ketamin in Pilotstudie untersucht
Ketamin beeinflusst die Regulation des Dopaminsystems und kann dopaminerge Signale im Gehirn verstärken. Seit 2019 ist es für die Behandlung von Depressionen zugelassen, wenn andere Medikamente keine Wirkung erzielen. Frühere Studien von Willeits Team lassen vermuten, dass Ketamin auch bei Negativsymptomen der Schizophrenie helfen könnte.
„In einem Vorgängerprojekt, das ebenfalls vom FWF gefördert wurde, konnten wir nachweisen, dass die Negativsymptome durch eine relative Unterfunktion des Dopaminsystems entstehen – im Gegensatz zur akuten psychotischen Phase der Schizophrenie, die durch eine Überfunktion des Dopaminsystems verursacht wird“, erklärt Willeit. An diese Entdeckung knüpft sein Forschungsteam nun an.
Im aktuellen Forschungsprojekt „Ketamin bei Negativsymptomen der Schizophrenie“ untersucht Willeit mit seinem Team die Wirksamkeit des Mittels bei 20 Patient:innen, die an einer Schizophrenie oder einer schizoaffektiven Erkrankung leiden. Die Teilnehmenden erhalten in zwei Behandlungsphasen jeweils sowohl Ketamin als auch ein Placebo. Wie sich die Behandlung auf die Struktur und Funktion des Gehirns auswirkt, erfasst das Team mittels Magnetresonanz-Untersuchungen in einer Kooperation mit Gregor Kasprian, Leiter der Abteilung für Neuroradiologie der Medizinischen Universität Wien.
„Wir haben zuvor einige Fallstudien über den Behandlungsansatz publiziert. Nun soll die Pilotstudie uns einen Hinweis auf eine Wirksamkeit geben. Erst danach können große klinische Studien folgen“, schildert Willeit, „vorausgesetzt natürlich, die Wirkung tritt ein.“ Erste Ergebnisse erwartet die Forschungsgruppe in den kommenden Monaten. Die Beobachtungen zeigen aber schon jetzt, dass die früher geäußerten Befürchtungen, Ketamin würde Psychosen auslösen, nicht eintreten, so Willeit.
Versorgungslücken schließen
Trotz moderner Therapien sind viele Menschen mit Schizophrenie unterversorgt. „Es gibt Schätzungen, dass weltweit bis zu zwei Drittel der Menschen mit Schizophrenie eigentlich keine adäquate Behandlung bekommen“, sagt Willeit. Die Gründe dafür sind vielfältig: Stigmatisierung, erschwerter Zugang zum Gesundheitssystem und die Erkrankung selbst, die es Betroffenen schwer macht, eine Behandlung nach dem vorgegebenen Schema durchzuhalten. Einrichtungen wie die Psychosozialen Dienste in Wien seien wichtige Partner, da sie nahe an den Wohnorten arbeiten, betont Willeit.
Für den Mediziner ist das Ziel klar: „Ein Erfolg wäre es, wenn wir die Zeit verkürzen könnten, bis die Negativsymptome abklingen. Man darf jedoch nicht glauben, dass es sich hierbei um ein Wundermittel handelt, das die Menschen ein paar Mal einnehmen, und dann sind sie geheilt. Aber in Kombination mit psychotherapeutischen Maßnahmen, tagesklinischer Unterstützung oder gezielten Programmen könnten solche Therapien den betroffenen Menschen dabei helfen, wieder ins Leben zurückzufinden.“
Zur Person
Matthäus Willeit leitet eine Forschungsgruppe an der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien. Der Mediziner erforscht die Entstehung und Behandlung von Schizophrenie und Störungen mit psychotischen Merkmalen, insbesondere im Hinblick auf Veränderungen des Dopaminsystems. Das klinische Forschungsprojekt „Ketamin bei Negativsymptomen der Schizophrenie“ (2021–2025) wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit 404.000 Euro gefördert.
Publikationen
Amphetamine-Induced Dopamine Release Predicts 1-Year Outcome in First-Episode Psychosis: A Naturalistic Observation, in: Schizophrenia Bulletin 2025
On the relationship of first-episode psychosis to the amphetamine-sensitized state: a dopamine D2/3 receptor agonist radioligand study, in: Translational Psychiatry 2020
Wissenschaftlicher Kontakt Ao. Univ.-Prof. Dr. Matthäus Willeit Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18-20 1090 Wien T +43 1 40400-35430 benedikt.till@meduniwien.ac.at https://public-health.meduniwien.ac.at Wissenschaftsfonds FWF Ingrid Ladner Redaktion scilog Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien T +43 676 83487 8117 ingrid.ladner@fwf.ac.at https://scilog.fwf.ac.at Follow us @ Social Media