Oliver Rathkolb wird 70: Zeithistoriker über das "nervöse Zeitalter"
Seit einem Jahr ist der Zeithistoriker der Nation und langjährige Professor der Universität Wien, Oliver Rathkolb, in Pension. An Umtriebigkeit hat er nichts eingebüßt: Der rege Aufbereiter der NS-Vergangenheit und Analyst für das Nachkriegsösterreich legte am Donnerstag sein jüngstes Buch "Ökonomie der Angst - Die Rückkehr des nervösen Zeitalters" vor - ein Epochenvergleich, quasi als Geburtstagsgeschenk an sich selbst: Am Montag (3. November) wird der Autor 70 Jahre alt.
In seinem jüngsten Werk, erschienen im Molden Verlag, geht der ehemalige Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien der Grundthese nach, dass die Epoche vor 1914 und die Jahrzehnte seit den späten 1980er Jahren durchaus vergleichbar sind - nämlich in einer Überforderung der Gesellschaften und "mit tiefgreifenden, in rasanter Geschwindigkeit ablaufenden Veränderungen im privaten Alltag, in der Arbeitswelt, aber auch im politischen, sozialen und kulturellen Gefüge".
"Triggerpunkte der nervösen Zeitalter"
Damals die "Gusseiserne Revolution" - heute die digitale; damals das erste kommerziell genützte Dampfschiff und die erste Lokomotive - heute das iPhone und Künstliche Intelligenz, damals die "Robber Barons" - heute die "Cyber Barons": Es sind nur einige von vielen Parallelen, die Rathkolb identifiziert und die sich auf knapp 300 Seiten thematisch um gesellschaftliche Verunsicherung, wirtschaftliche Krisen, die Rolle von Innovationen, politische Umwälzungen und geopolitische Machtverhältnisse rund um den Erdball drehen.
Zentral stellt er die Frage: "Aber wo stehen wir heute, in der Mitte der Zweiten Turboglobalisierung?" Er analysiert u.a. die "Triggerpunkte der nervösen Zeitalter", um letztlich daran zu erinnern, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen. So ordnet der Autor im letzten Kapitel auch diverse Untergangsszenarien ein und skizziert seine Zukunftsoptionen Europas.
Akribischer Aufarbeiter
Der renommierte Historiker, dessen weit bekanntes und mehrfach ausgezeichnetes Buch "Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2025" ebenfalls heuer in einer erweiterten Neuauflage erschienen ist, ist nicht nur ein guter Kommunikator. Kaum ein Gedenktag, kaum eine NS-Diskussion in Österreich, die ohne die Analysen des Wissenschafters, der als ehemaliger Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats auch dem Projekt "Haus der Geschichte" seinen Stempel aufgedrückt hat, auskommen.
Zu seinen jüngeren Unternehmungen zählen etwa die Aufarbeitung der Geschichte der Wiener Secession im Zeitraum 1898 bis 1955 und der Rolle von Antisemitismus. Im kommenden Jahr soll eine etwa 150-seitige Publikation zur "institutionellen Geschichte der Secession während und nach der Zeit des Nationalsozialismus" erscheinen, wie das Haus jüngst mitteilte. Bei der diesjährigen Schau "Kontrollierte Freiheit. Die Alliierten in Wien - Kulturpolitik 1945-1955" im Wien Museum war Rathkolb Teil des Kuratorenteams und Herausgeber des Katalogs zur Ausstellung, der sich mit Bildender Kunst, Film, Literatur und Bibliothekswesen ebenso befasst wie mit Musik und Theater, Pressefotografie und Printmedien, Rundfunk und Sport.
Experte für die dunklen Kapitel
Blicken österreichische Institutionen kritisch in ihre Vergangenheit, wird Rathkolb gerne hinzugezogen: So arbeitete er etwa die dunklen Kapitel in der Geschichte der Wiener Philharmoniker auf und war Bestandteil jener Kommission, die den Einsatz der umstrittenen Malaria-Therapie an Wiener Spitälern untersuchte. Er untersuchte die Geschichte der Uni Wien oder der Salzburger Festspiele ebenso wie die Rolle von P.S.K., Vöest oder Verbund in der NS-Zeit.
Rathkolb, geboren am 3. November 1955 in Wien, studierte Rechtswissenschaften und Geschichte an der Universität Wien. Nach seiner Promotion (Rechtswissenschaften 1978, Geschichte 1982) war er zwischen 1984 und 2005 am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft tätig, ab 1995 als sein Co-Leiter. 1993 erhielt er die Lehrbefugnis an der Universität Wien und war fortan Dozent für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte.
2005 erhielt er eine bis 2007 begrenzte Zeitprofessur am Institut für Zeitgeschichte. Nach einem Intermezzo als Direktor des Boltzmann-Institutes für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit folgte 2008 die endgültige Berufung an die Uni Wien, wo er bis 2024 als Professor für Zeitgeschichte tätig war. Er agierte als Institutsvorstand von 2008 bis 2012 und 2016 bis 2022. Im November 2024 fand an der Universität Wien unter dem Titel "Demokratie in nervösen Zeiten - Oliver Rathkolbs Wendezeiten" seine Emeritierungsfeier statt.
Der Historiker, der zwischen 1985 und 2003 das Bruno-Kreisky-Archiv leitete, die dreibändigen Memoiren des ehemaligen Bundeskanzlers Bruno Kreisky (SPÖ) herausbrachte und etwa 18 Jahre dem wissenschaftlichen Beirat des Theodor-Körner-Fonds für Wissenschaft und Kunst vorsaß (heute noch Mitglied), ist seit 2019 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel. Er leitet zudem seit 2022 das Wiener Institut für Kultur- und Zeitgeschichte (VICCA) und ist langjähriger Herausgeber der Zeitschrift "zeitgeschichte" sowie Vorstandsmitglied der "Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte". Rathkolb wurde mit dem Großen Silbernen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (2016), dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien (2015), dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse (2011) und dem Preis der Stadt Wien für Geisteswissenschaften (2012) ausgezeichnet.
Sein jüngstes Werk "Ökonomie der Angst" steht bereits auf der Longlist 2026 in der Kategorie Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften für "Das Wissenschaftsbuch des Jahres", eine jährliche Aktion des Wissenschaftsministeriums mit dem Verlag Buchkultur. Am Donnerstagabend präsentiert der Historiker das Buch im Wien Museum.
Service: https://www.wienmuseum.at