80 Jahre Kriegsende - Expertin: "Wendepunkt" im britischen Gedenken
Das 80-Jahr-Jubiläum des Kriegsendes ist aus Sicht der britischen Historikerin Wendy Ugolini auch ein "Wendepunkt" hinsichtlich der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Großbritannien. "Denn das ist wohl die letzte große Gelegenheit des Gedenkens, bei der die Veteranen oder jene, die alt genug waren zu kämpfen, sichtbar sein werden." Die Frage sei, wie sich jüngere Generationen künftig mit dem Krieg auseinandersetzen werden, sagt die Expertin im Gespräch mit der APA.
"Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Großbritannien ist im Grunde genommen immer im Wandel, sie verändert sich ständig", führt die Professorin von der Universität Edinburgh mit Forschungsschwerpunkt Zweiter Weltkrieg aus. Unmittelbar nach Kriegsende, "als Großbritannien eine Labour-Regierung wählte", habe sie sich auf Ideen der Einheit, der Zusammengehörigkeit und der Gleichheit aus Kriegszeiten gestützt - auch im Sinne des Gedankens, dass Zivilisten aufgrund der Bombardements und des "Blitz", der deutschen Luftangriffe zwischen September 1940 und Mai 1941, ebenso gelitten hätten wie Militärangehörige und sich die Menschen angesichts ihrer großen Opfer "etwas verdient" hätten. "All diese Ideen inspirierten die Schaffung des Wohlfahrtsstaates nach dem Krieg."
Das habe sich in den 1970er-Jahren mit dem Zusammenbruch des "Nachkriegskonsens" und dem Aufstieg des "Thatcherismus" geändert. "Speziell in den 1980er-Jahren, als Margaret Thatcher Premierministerin war und der Falkland-Krieg stattgefunden hat, hat Thatcher bewusst in anderer Weise die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg genutzt." Statt um soziale Solidarität sei es nun viel mehr um einen britischen Patriotismus und die Idee gegangen, "allein gegen einen Aggressor" zu stehen. Auch die heute in Großbritannien gängigen Gedenkveranstaltungen seien in Wahrheit erst in den 1980er-Jahren aufgekommen, sagt Ugolini.
Fokus auf Einzelereignissen
Nun gebe es Jahrestags- und Gedenkzyklen, doch nach wie vor liege der Fokus stark auf Einzelereignissen von historischer Tragweite. "Wir sprechen viel über Dunkirk" - die Evakuierung von mehr als 300.000 britischen und alliierten Soldaten aus dem französischen Dunkerque (Dünkirchen) über den Ärmelkanal von Ende Mai bis Anfang Juni 1940 -, aber auch "den D-Day" - die Landung alliierter Truppen in der Normandie am 6. Juni 1944 - oder den "V-E Day", also das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945.
Dies sei allerdings auch eine ziemlich "eurozentrische Sicht" darauf, was Großbritannien während des Krieges erlebt habe. Weiter entfernte Kriegsschauplätze gerieten dadurch aus dem Blickfeld. "Wir sprechen also nicht viel über Ostafrika, wir sprechen nicht über Burma und den 'V-J Day' (den Tag der Kapitulation Japans), und wir sprechen ganz bestimmt nicht über andere alliierte Nationen und deren Beiträge - etwa über die Russen, die in Stalingrad gekämpft haben, oder die Schlacht von Kursk."
Jahrzehntealte britische Fernsehklassiker wie "Dad's Army" und "'Allo, 'Allo", die sich auf humoristische Weise mit dem Zweiten Weltkrieg befassen, haben nach Einschätzung Ugolinis viel mit dem Selbstbild zu tun, das in Großbritannien zu Kriegszeiten - auch als Kontrast zu Nazi-Deutschland - vermittelt wurde. Neben einer stoischen Haltung und der Bereitschaft, Opfer zu bringen, sei es dabei eben auch um Humor und die Fähigkeit gegangen, über sich selbst zu lachen, so die Expertin auf eine entsprechende Frage. "Das führt sich dann fort in den späteren Darstellungen des Krieges."
Wandel im 21. Jahrhundert
Doch auch im 21. Jahrhundert habe sich das Erinnern an den Zweiten Weltkrieg bereits gewandelt. Aufgrund der immer geringeren Zahl an Zeitzeugen werde der Krieg nun durch eine "modernere Linse" und mit einem Fokus auf eine größere Diversität an Erfahrungen neu betrachtet. "Wir kommen jetzt an einen Punkt, wo dem Beitrag von Truppen aus den Kolonien und dem Commonwealth und Militärpersonal nicht-weißer Hautfarbe und anderer Ethnien mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das ist also erneut eine bedeutende Veränderung dessen, wie man sich an den Krieg erinnert."
Vorhersagen darüber, wie das künftige Gedenken in Großbritannien aussehen könnte, möchte Ugolini nicht treffen. Abhängen dürfte das ihrer Meinung nach auch davon, "ob die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zentral dafür bleibt, wie Großbritannien seine nationale Identität konstruiert". Im Moment sei sie jedenfalls noch ein Element davon. "Es entwickelt, verändert und verschiebt sich im Laufe der Zeit, und dann wird es auch in bestimmten Schlüsselmomenten in gewisser Art und Weise wiederbelebt. Der Falkland-Krieg war so ein Schlüsselmoment, und dann auch das Brexit-Referendum", sagt die Historikerin.
Bei der "Politik der Erinnerung" gehe es "um die Art und Weise, wie die Gegenwart unser Verständnis der jüngeren Vergangenheit beeinflusst und prägt", hält Ugolini fest. Allzu heldenhafte Narrative zum Zweiten Weltkrieg seien in jüngster Zeit durch die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, aber auch durch die Fernsehbilder von der russischen Invasion in der Ukraine "gestört" worden - "im Sinne dessen, dass sie die Brutalität und die Realität und die Toten und die Opfer dessen deutlich machen, was es bedeutet, wenn Krieg geführt wird. Und dann fangen die Leute an, darüber nachzudenken, was sie selbst bereit wären zu tun. Auch hier gibt es einen Generationswechsel: Es ist die junge Generation, die sich jetzt mit diesen Fragen auseinandersetzt."
(Das Gespräch führte Alexandra Angell/APA)