Neutrinos: Die Jagd nach den seltsamsten Teilchen der Welt
Für den deutschen Teilchenphysiker und Autor Christian Spiering sind Neutrinos "die eigenartigsten und befremdlichsten aller bekannten Teilchen". In seinem neuen Buch "Das seltsamste Teilchen der Welt" erzählt er die Jagd nach den "Geisterteilchen" anhand der Porträts von sieben Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, die für seine Entdeckung und Erforschung in den vergangenen 100 Jahren eine entscheidende Rolle gespielt haben. Zwei davon kamen aus Österreich.
Spiering würde den Neutrinos einen "Preis für Extravaganz und Rätselhaftigkeit" verleihen. Wie musste es erst den Physikern im vergangenen Jahrhundert gegangen sein, die sich auf die Suche nach etwas machten, das nur eine äußerst geringe Neigung hat, mit seiner Umwelt in irgendeiner Form in Kontakt zu treten. So durchdringen jede Sekunde Myriaden von Sonnenneutrinos praktisch ungehindert die Erde - und jeden ihrer Bewohner.
Lise Meitner als Ausgangspunkt
Als Ausgangspunkt der Wissenschaftsgeschichte der Neutrinos wählte Spiering die österreichische Physikerin Lise Meitner (1878-1968), die Ungereimtheiten bei radioaktiven Zerfallsprozessen - konkret den Beta-Zerfall - untersuchte. Weder ihr noch anderen Forschern gelang es zu einer Zeit, als man nur drei Elementarteilchen (Proton, Elektron und Photon) kannte, diese Ungereimtheiten auszuräumen.
Erst der österreichische Physiker Wolfgang Pauli (1900-1958) fand für dieses Problem einen "verzweifelten Ausweg", wie er im Dezember 1930 in einem Brief an die Teilnehmer einer Tagung in Tübingen schrieb. Pauli stellte darin die These von "elektrisch neutralen Teilchen" auf, die beim Beta-Zerfall entstehen und so viele Fragen beantworten könnten. Er nannte sie "Neutronen".
Ein Name, den sie zwei Jahre später wieder abgeben mussten, als neutrale Kernbauteilchen entdeckt wurden. Sie wurden - passend zu ihren Schwestern im Atomkern, den positiv geladenen Protonen - "Neutronen" genannt. Und die von Pauli vorgeschlagenen Teilchen erhielten vom italienischen Physiker Enrico Fermi den Namen "Neutrino".
Pauli tat "Schreckliches"
Schon 1930 meinte Pauli zu seinem Vorschlag, "etwas Schreckliches getan zu haben ... Ich habe etwas vorgeschlagen, was nie experimentell verifiziert werden kann". Pauli sollte sich irren, aber es musste dafür mehr als ein Vierteljahrhundert vergehen: Erst 1956 gelang es dem US-Physiker Fred Reines (1918-1998) an einem Kernreaktor, Neutrinos experimentell nachzuweisen. Die gigantische Menge an Neutrinos, die bei der Kernspaltung erzeugt wird, ermöglichte das scheinbar Unmögliche.
Schritt für Schritt, Jahr um Jahr wurde dann ein Rätsel der seltsamen Teilchen um das andere gelüftet. Der italienische Physiker Bruno Pontecorvo (1913-1993) schlug eine zweite Neutrinosorte vor, die schließlich 1962 entdeckt wurde, acht Jahre später wiesen die US-Forscher John Bahcall (1934-2005) und Raymond Davis (1914-2006) erstmals aus der Sonne stammende Neutrinos nach und schließlich entdeckte 1987 der japanische Physiker Masatoshi Koshiba (1926-2020) Neutrinos, die aus einer Supernova stammten.
Spiering gelingt eine spannende wissenschaftshistorische Aufarbeitung von 100 Jahren Neutrinoforschung vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts mit all seinen Katastrophen und Verwerfungen. Dazu zählen die Repressalien gegen Forscherinnen und Forscher mit jüdischen Wurzeln wie Meitner, Pauli und Pontecorvo ebenso wie das US-amerikanische Manhattan-Projekt zum Bau der Atombombe, in das Fred Reines eingebunden war, und der "Kalte Krieg", in dem der überzeugte Kommunist Pontecorvo in die Sowjetunion emigrierte.
Einblick in aktuelle Neutrinoforschung
Beeindruckend zeigt der Autor auch die Hartnäckigkeit, mit der die Porträtierten ihre Fragestellungen und Ideen teilweise über Jahrzehnte verfolgten. Dazu zählen auch ihre zunächst utopisch erscheinenden Versuchsaufbauten tief unter der Erde, im Wasser oder im Eis, mit denen sie Spuren der Neutrinos suchten.
Für alle, die sich bei der Lektüre im Teilchenzoo mit Elektron-, Myon- oder Tau-Neutrinos, mit solaren pp-, Bor-8- oder CNO-Neutrinos verloren haben, hilft eine kurze Übersicht den Überblick über die Neutrinovielfalt zu behalten. Dass die Geschichte der Neutrinos noch lange nicht zu Ende erzählt ist, zeigt Spiering, der selbst jahrelang in der Neutrinoforschung aktiv war und u.a. am Projekt "IceCube", dem größten Neutrinodetektor der Welt im Eis des Südpols mitgearbeitet hat, in seinem Einblick in die aktuelle Neutrinoforschung am Ende des Buchs.
Denn als Boten aus weit entfernten oder verborgenen Welten interessieren die Neutrinos nicht nur Teilchen-, sondern auch Astrophysiker und Forscher aus anderen Wissensgebieten. Schließlich liefern sie Informationen, wie die Sonne arbeitet, woher die Erdwärme stammt, was im Innern eines kollabierenden Sterns vonstatten geht oder sich in Aktiven Galaxien abspielt. Der Autor vermutet daher, dass die Neutrinoastronomie mit Teilchen hoher Energie das Gebiet ist, "von dem in den nächsten zwei Jahrzehnten die meisten Entdeckungen zu erwarten sind".
Service: Christian Spiering: "Das seltsamste Teilchen der Welt - Auf der Jagd nach dem Neutrino", Hanser Verlag, 336 S., 28,80 Euro, ISBN 978-3-446-28465-4