Unbekannte Briefe des Dichters W. H. Auden entdeckt - Literaturwissenschaft
Rund 100 bislang unbekannte Briefe und Karten von W. H. Auden, geschrieben an seinen Liebhaber, Freund und Vertrauten Hugo, wurden nach einem Fernsehbericht in Niederösterreich gefunden. Der Nachlass wird jetzt von Forscher:innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ausgewertet und online zugänglich gemacht - ein bedeutender Beitrag zur internationalen Auden-Forschung und zur österreichischen Kulturgeschichte.
Ein Zufall, wie ihn die Literaturwissenschaft nur selten erlebt: Durch einen TV-Beitrag im ORF Niederösterreich wurde 2023 eine bisher unbekannte Sammlung von Korrespondenz des britisch-amerikanischen Dichters W. H. Auden (1907-1973) entdeckt - ein Fund, der neue Einblicke in Leben, Werk und persönliche Beziehungen eines der einflussreichsten englischsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts eröffnet.
Vom Fernsehinterview zum Archivschatz
Im 50. Todesjahr Audens sprach Helmut Neundlinger, Leiter des Archivs der Zeitgenossen in Krems und Kurator des Auden-Schriftstellermuseums in Kirchstetten, im Fernsehen über den Dichter - und erwähnte dabei beiläufig einen gewissen "Hugo", einen Wiener "Callboy", den Auden in den 1960er-Jahren kannte und dem er sogar ein Gedicht widmete.
Kurz darauf meldete sich beim ORF eine Frau, die Hugo und dessen Frau persönlich gekannt hatte. Als deren Alleinerbin war sie im Besitz eines umfangreichen Schriftwechsels - rund 100 Briefe und Postkarten von W. H. Auden -, von dessen Existenz bisher niemand geahnt hatte und den sie den Landessammlungen Niederösterreich übergab. Heute wird er im Archiv der Zeitgenossen verwahrt.
Eine biografische Fußnote erhält Kontur
"Dass dieser Bestand überhaupt erhalten blieb, ist ein Glücksfall", sagt die Literaturhistorikerin Sandra Mayer. Gemeinsam mit Timo Frühwirth erforscht und digitalisiert sie die Briefe am Austrian Centre for Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Im Rahmen des vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts "Auden in Austria Digital" werden die Dokumente wissenschaftlich erschlossen und öffentlich zugänglich gemacht.
In den etablierten Auden-Biografien ist Hugo kaum mehr als eine kuriose Fußnote, die durch diesen Fund nun Substanz erhält. Die rund zehn Jahre währende Korrespondenz zwischen Auden und Hugo - von den frühen 1960er bis in die 1970er Jahre - zeigt eine überraschend enge, respektvolle Beziehung zwischen dem weltberühmten Dichter aus Übersee und einem Mann aus dem Wiener Arbeitermilieu. "Das für uns Spannende sind der offene Tonfall und die Bandbreite der Themen", sagt Timo Frühwirth. "Auden schreibt an Hugo nicht von oben herab, sondern in einem Ton, der von Intimität, Vertrauen und Austausch auf Augenhöhe geprägt ist."
Neue Perspektiven auf queere Geschichte
Die Briefe an Hugo eröffnen nicht nur literarische, sondern auch gesellschaftsgeschichtliche Perspektiven. In den 1960er-Jahren war Homosexualität in Österreich strafbar, besonders im ländlichen Raum herrschte ein restriktives Klima. Gemeinsam mit Andreas Brunner, dem wissenschaftlichen Leiter von QWIEN - Zentrum für queere Geschichte, wird der Bestand auch unter diesem Aspekt erforscht. "Das Material könnte neue Ansätze nicht nur für die internationale Auden-Forschung, sondern auch für die weitere wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Facette der österreichischen Geschichte nach 1945, liefern", so Mayer.
W. H. Auden - Weltliterat in Kirchstetten
Der 1907 in York geborene Auden gilt als einer der bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhunderts. Einen Rückzugsort fernab vom betriebsamen Leben in New York City fand Auden in den 1950er-Jahren in Kirchstetten (NÖ). Dort schrieb er große Teile seines Spätwerks. Dennoch blieb Auden in Österreich lange einer breiten Öffentlichkeit wenig bekannt - anders als in den USA oder Großbritannien. Die Aufarbeitung des archivarischen Gesamtbestandes sowie die digitale Edition im Rahmen des ÖAW-Projekts "Auden in Austria Digital" sollen das ändern und Auden auch als Teil österreichischer Literaturgeschichte sichtbar machen.
Rückfragehinweis: Phuong Duong Öffentlichkeit & Kommunikation Österreichische Akademie der Wissenschaften Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien T +43 1 51581-1335 phuong.duong@oeaw.ac.at Wissenschaftliche Kontakte: Timo Frühwirth Austrian Centre for Digital Humanities Österreichische Akademie der Wissenschaften Bäckerstraße 13, 1010 Wien T +43 1 51581-2231 timo.fruehwirth@oeaw.ac.at Sandra Mayer Austrian Centre for Digital Humanities Österreichische Akademie der Wissenschaften Bäckerstraße 13, 1010 Wien T +43 1 51581-2251